
Die Anzahl pflegebedürftiger Menschen in Deutschland steigt schneller als erwartet: Die offiziellen Zahlen sind schon alarmierend genug – laut einer Prognose des Statistischen Bundesamtes zur Entwicklung der Anzahl von Pflegebedürftigen in Deutschland, nach Geschlecht bis 2030 und ausgehend von der 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder – könnte die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland bis zum Jahr 2030 auf rund 3,4 Millionen Menschen ansteigen. Das wäre ein Anstieg um mehr als 30%.
Inhalt
- Noch steilerer Anstieg befürchtet
- Überforderte Angehörige
- Vereinbarkeit von Beruf und Pflege
- Pflege – ein Tabuthema
- Häusliche Pflege
- Schritt für Schritt (Beratung, Vorbereitung, Beruf, Pflegealltag)
- Listen von Pflegestützpunkten
- Mehr Infos zum Thema
Noch steilerer Anstieg befürchtet
Doch die aktuellen Entwicklungen lassen einen eher noch steileren Anstieg befürchten. So gibt es mittlerweile nicht wenige Experten, die die Zahlen des Statistischen Bundesamtes für schlicht zu niedrig halten. Martin Wysocki, Pflegeexperte und Geschäftsführer der bundesweit vertretenen Firma Pflegehelden Franchise GmbH zum Beispiel hält eine Zahl zwischen 3,8 und 4,2 Mio. für wesentlich realistischer: „Wenn wir uns allein die Steigerungen in den letzten beiden Jahren ansehen und vor allem die demographische Entwicklung einbeziehen, braucht man kein Hellseher zu sein, um zu wissen, dass wir die erst für 2030 prognostizierten 3,4 Mio. Pflegebedürftiger wesentlich früher erreichen werden.“, so der Pflegeinsider.
Aber bei den genannten Zahlen ist es fast schon einerlei, welche Prognose letztendlich näher an der Realität sein wird. Auch die offiziellen Statistiken sagen zwischen den Zeilen ganz klar, dass unser gesamtes Pflegesystem – angefangen bei der Pflegeversicherung über Pflegeheime bis hin zu den Angehörigen, an denen nicht selten die Hauptlast der Pflege hängen bleibt, heillos überfordert sein werden.
Überforderte Angehörige
Insbesondere die Angehörigen von pflegebedürftigen Menschen sind oft heute schon mehrheitlich die Hauptleidtragenden und mit ihrer Rolle als ehrenamtliche Pfleger alleingelassen und meist völlig überfordert. Nicht selten bis zur eigenen physischen und psychischen Erschöpfung und darüber hinaus.
So gaben Betroffene in einer Umfrage im Auftrag des Wissenschaftlichen Instituts der Techniker Krankenkasse unter anderem an, dass sie keinerlei Zeit hatten, in ihre pflegerischen Aufgaben hineinzuwachsen und dass sie die Pflege als extrem belastend und kräftezehrend empfinden. Eine Belastung, die sich auch auf das Berufsleben der Betroffenen auswirkt, denn etwas mehr als die Hälfte der Befragten ist zusätzlich noch berufstätig, aber nur rund 20Prozent in Vollzeit. Dies zeigt, dass die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf nur sehr selten möglich ist, denn 30 Prozent der Berufstätigen mussten aufgrund der Pflege eines Angehörigen ihre Arbeitszeit reduzieren, wie der Spiegel auf seiner Webseite in dem Artikel „Wie Deutsche mit der Pflege ihrer Angehörigen umgehen“ zu berichten weiß.
Nicht zuletzt deshalb fordert der Sozialverband VDK schon seit langem eine grundlegende Reformation des deutschen Pflegesystems.
Vereinbarkeit von Beruf und Pflege
Eine der VdK-Forderungen zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Pflege wurde nun endlich auf den Weg gebracht: „Die neuen Pflegereformpläne des Bundesfamilienministeriums sind endlich ein konkreter Schritt hin zu einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Pflege. Das ist zumindest eine kleine Erleichterung für Arbeitnehmer, die neben ihrem Job einen pflegebedürftigen Angehörigen pflegen. Das Familienpflegezeitgesetz aus dem Jahre 2011 hat sich als nicht praxistauglich herausgestellt“, kommentiert Ulrike Mascher, Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland, den aktuellen gewordenen Gesetzesvorschlag von Familienministerin Manuela Schwesig auf der Onlineseite der VdK.
Pflege – ein Tabuthema
Die Pflegebedürftigkeit eines nahen Verwandten kann eine Familie völlig überraschend treffen – zum Beispiel durch einen Unfall, Herzinfarkt oder Schlaganfall oder als schleichender Prozess langsam immer schlimmer werdend.
Die Frage ob und ab wann Hilfe dauerhaft nötig ist, gestaltet sich insbesondere bei schleichendem Verlauf nicht immer einfach. Die pflegebedürftigen Personen selbst wollen es sich oft viel zu lange nicht eingestehen, weil sie Angst vor dem Pflegeheim oder der Abhängigkeit von anderen Personen haben.
Und auch die Angehörigen schieben diese unangenehmen Diskussionen und Entscheidungen oft solange vor sich her, bis es gar nicht mehr anders geht und dann eine meist schnelle Entscheidung her muss. Dadurch werden auch medizinische Maßnahmen verzögert, die – rechtzeitig eingesetzt – zu einem wesentlich milderen Verlauf der Krankheit hätten führen können. Schon allein deshalb raten alle Pflege-Experten dringend dazu, dieses Thema rechtzeitig, also eher zu früh, als zu spät anzugehen und innerhalb der Familie zu besprechen. Das gilt auch für den „Pflegefall aus heiterem Himmel“. Warum nicht mal ein „Was wäre wenn“- Szenario durchspielen, damit im Ernstfall zumindest grundlegende Handgriffe klar sind.
Zu den möglichen Lösungen gehören auch eher unkonventionelle Ansätze, wie die Pflege durch eine osteuropäische Pflegekraft oder ein Pflegeheim im Ausland.
Häusliche Pflege
Praktisch alle älteren oder pflegebedürftigen Menschen wünschen sich, zuhause bleiben zu können und im Fall des Falles von Angehörigen versorgt zu werden.
Das ist Umfragen zufolge auch der Wunsch der meisten Angehörigen, aber die Praxis macht dies nicht immer einfach.
Tatsache ist, dass die Pflegebedürftigkeit eines nahen Angehörigen in der Familie und im Leben aller Betroffenen gewaltige Umstellungen mit sich bringt bzw. erforderlich macht:
- Ein hohes Maß an Verantwortung für einen anderen Menschen,
- jede Menge Verwaltungskram,
- neue Kenntnisse und Fertigkeiten, die erlernt werden müssen und nicht zuletzt
- menschliche Themen mit dem pflegebedürftigen Familienmitglied oder innerhalb der sonstigen Familie.
So macht es einen großen Unterschied, ob es sich bei der pflegebedürftigen Person um ein Kind, den Partner oder einen Elternteil handelt.
Was Sie als betroffene Angehörige aber auf alle Fälle brauchen, sind umfassende Informationen. Im Folgenden finden Sie die wichtigsten Punkte, die Sie beachten sollten.
Schritt für Schritt
Zunächst mal ist es gut zu wissen, dass Ihnen – wenn Sie berufstätig sind – bis zu 10 Tage Sonderurlaub zustehen, in denen Sie alles für die Pflege Notwendige in die Wege leiten können. Sie müssen die folgenden Schritte zwar nicht alle auf einmal erledigen, manche davon sind jedoch zeitkritisch, weil z.B. die meisten Leistungen erst ab Antragsstellung beginnen.
1. Schritt: Lassen Sie sich beraten und erledigen Sie den „Papierkram“!
Nehmen Sie Kontakt zu Beratungsstellen, Sozialdiensten, zu einem örtlichen Pflegestützpunkt oder zum Krankenhaussozialdienst auf. Ihre Gemeindeverwaltung oder die Landesstellen für pflegende Angehörige geben Ihnen Auskunft.
Fordern Sie bei der Pflegekasse das Formular für den Antrag auf Pflegeeinstufung an und stellen diesen Antrag schnellstmöglich (das ist wichtig und zeit- kritisch, denn der Leistungsbeginn ist ab Antragstellung).
Falls erforderlich stellen Sie auch beim Sozialamt einen entsprechenden Antrag. Auch hier gilt wieder: Leistungsbeginn ist ab Antragstellung.
Allerdings geht die Antragstellung hier auch vorsorglich telefonisch und sie gilt auch rückwirkend ab dem Zeitpunkt Ihres Antrages bei der Pflegekasse.
Nachdem die Pflegekasse die Pflegestufe festgelegt hat (siehe auch nächster Punkt) lassen Sie sich in jedem Fall das Pflegegutachten schicken, um es genau zu prüfen. Lassen Sie es sich erklären und legen Sie gegebenenfalls Widerspruch ein. Pflegestützpunkte bzw. Pflegeberatungsstellen helfen Ihnen dabei.
Prüfen Sie auch, ob die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises gegeben sind. Hierüber informiert Sie wiederum Ihre Gemeindeverwaltung. Ein Schwerbehindertenausweis bringt zahlreiche Vergünstigungen, wie z.B. steuerliche Erleichterungen, Nutzung von Schwerbehinderten-Parkplätzen, eine kostenfrei mitfahrende Begleitperson bei Bahnreisen, direkte Preisnachlässe bei Veranstaltungen, den GEZ-Gebühren etc.
2. Schritt: Bereiten Sie sich auf die Praxis vor
Beginnen Sie ein Pflegetagebuch zu führen und bereiten Sie sich auf die MDK-Begutachtung vor. Hinter MDK steht der Medizinische Dienst der Krankenversicherungen. Bei der MDK-Begutachtung dürfen Sie bzw. weitere Angehörige der pflegebedürftigen Person anwesend sein. Pflegetagebücher erhalten Sie u.a. von der Pflegekasse (fragen Sie am besten gleich danach, wenn Sie das Antragsformular für die Pflegeeinstufung anfordern)
Soweit nötig, besuchen Sie einen der zahlreichen kostenlosen Pflegekurse, die von Pflegekassen und Pflegediensten angeboten werden. Auch Schulungen zu Hause sind möglich.
Zur Vorbereitung für die Praxis gehört auch die Entscheidung, wo die häusliche Pflege sinnvoll bzw. möglich ist. Sind z.B. die häusliche Situation in der bisherigen Wohnung der pflegebedürftigen Person und das Wohnumfeld für die Pflege geeignet? Die Wohnung muss groß genug und entweder bereits behindertengerecht eingerichtet oder mit vertretbarem Aufwand umzubauen sein. Speziell der behindertengerechte Ausbau eines Bades kann dabei sehr schnell sehr teuer werden, auch wenn es gegebenenfalls Zuschüsse für den Umbau gibt.
Handelt es sich um eine Mietwohnung muss außerdem beim Vermieter die Erlaubnis für solche Umbaumaßnahmen eingeholt werden. Am Ende dieser Überlegungen steht oft die Einsicht, dass an einem Umzug kein Weg vorbei führt.
Dazu können noch weitere Anschaffungen kommen, wie z.B.
- ein Rollstuhl, Treppenlift oder Rollator
- eine Toilettensitzerhöhung
- ein spezielles Pflegebett oder eine Spezialmatratze
- ein Patientenlifter, Badewannenlift bzw. Badewannen- oder Duschsitze
- ein Hausnotrufsystem („roter Knopf“) falls die pflegebedürftige Person allein ist und Hilfe benötigt usw.
3. Schritt: Sie selbst und Ihr Job
Prüfen Sie die zukünftige Vereinbarkeit Ihrer beruflichen Tätigkeit mit der Pflege. Aber bevor Sie Ihren Job aufgeben, sollten Sie zunächst die Möglichkeit einer gesetzlichen Pflegezeit erfragen. Auch ein offenes Gespräch mit Ihrem Arbeitgeber über eine Reduzierung Ihrer Stundenzahl oder flexiblere Arbeitszeiten kann nicht schaden.
Beschäftigt die Firma, in der Sie arbeiten, mehr als 15 Arbeitnehmer, können Sie bis zu einem halben Jahr Pflegezeit nehmen. Lassen Sie sich in jedem Fall über alle möglichen Optionen beraten, bevor Sie eine Entscheidung treffen. Dazu gehört auch, die Möglichkeit einer Tagespflege und anderer Entlastungen in Betracht zu ziehen.
Wenn Sie jedoch zu dem Ergebnis kommen, dass Sie Ihren Job aufgeben müssen, sprechen Sie vorher mit der für Sie zuständigen Agentur für Arbeit. Und nochmal: Geben Sie Ihre Berufstätigkeit auf keinen Fall ohne vorherige Beratung auf! In diesem Zusammenhang müssen Sie sich auch um Ihre Krankenversicherung kümmern. Wenn eine Mitversicherung über Ihren Ehepartner nicht möglich ist und auch kein Anspruch auf Arbeitslosengeld besteht, geht eventuell eine freiwillige Weiterversicherung (allerdings auf eigene Kosten).
Wichtig: Soweit die Hauptpflegeperson nur noch 30 Stunden oder weniger pro Woche berufstätig ist und mindestens 14 Stunden pro Woche Pflege leistet, besteht Rentenversicherungspflicht! Den Antrag müssen Sie wiederum bei der Pflegekasse stellen. Überprüfen Sie regelmäßig, ob 14 Stunden Pflegeaufwand tatsächlich erreicht werden
4. Schritt: Der Pflegealltag und Ihre Gesundheit als Pflegeperson
Besprechen Sie familienintern die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung. Vergessen Sie sich selbst nicht! Sorgen Sie für Entlastung im Pflegealltag und für eine Aufteilung der Pflegearbeit auf die ganze Familie. Daneben ist es möglich, sich zeitweise oder sehr umfassend bei der Pflege zuhause helfen zu lassen.
Die Möglichkeiten reichen von Pflege- und Betreuungsdiensten, die Sie stunden- oder tageweise entlasten können, bis zur 24-Stunden-Pflege zum Beispiel durch eine polnische Pflegekraft.
Dieser Weg sollte immer dann ernsthaft in Erwägung gezogen werden, wenn es finanziell möglich und familienintern sinnvoller ist. Zum Beispiel, weil Sie sehr gut verdienen und weiter entfernt lebende Angehörige zwar nicht mithelfen, aber mitbezahlen können.
Listen von Pflegestützpunkten
Pflegestützpunkte bieten im Bedarfsfall eine unabhängige und immer kostenfreie Pflegeberatung an. Sie klären Sie über alle finanziellen, organisatorischen und praktischen Fragen auf, die mit der Pflege zusammen hängen.
- Welche Pflegestufen gibt es und wie läuft die Einstufung ab?
- Was muss alles beachtet werden?
- Welches Maß an Pflege ist notwendig und geht das noch zuhause?
- Was ist der Unterschied zwischen Tages- und Kurzzeitpflege?
Für diese und ähnliche Fragen gibt es in fast allen Bundesländern sogenannte Pflegestützpunkte, an die sich Pflegebedürftige bzw. deren Angehörige wenden können. Hintergrund ist, dass Pflegebedürftige seit dem Pflegereformgesetz von 2008 Anspruch auf eine kostenlose und unabhängige Pflege-Beratung haben.
Die Bundesländer konnten selbst entscheiden, ob sie dafür zentrale Pflegestützpunkte einrichten oder – wie Sachsen und Sachsen-Anhalt – diese Beratung von einem eigenen Pflegeberatungs-Netzwerk bzw. durch Beratungsstellen von Kommunen und Krankenkassen erledigen lassen.
Von den Bundesländern, die Pflegestützpunkte eingerichtet haben, ist Rheinland-Pfalz mit insgesamt 135 Stützpunkten der Spitzenreiter, Niedersachsen mit nur 14 das Schlusslicht. Insgesamt gibt es in Deutschland rund 300 Pflegestützpunkte.
Als der Finanztest Spezial unter dem Stichpunkt „Eltern versorgen“ 2012 bundesweit 16 Pflegestützpunkte getestet hat, wurden 5 mit gut und die restlichen 11 mit befriedigend bewertet. Getestet wurden u.a.
- die Service-Qualität
- die telefonische Erreichbarkeit
- das Angebot an zeitnahen Beratungsterminen
- die fachliche Beratungsqualität
- die Unabhängigkeit der Beratung
Ein wichtiger Tipp der Tester ist, gut vorbereitet zu dem Erstgespräch in einem Pflegestützpunkt zu gehen. Erstellen Sie eine Liste mit Ihren Fragen und nehmen Sie vorliegende Unterlagen, wie z.B. ein Pflegetagebuch mit, so dass sich der Berater ein möglichst genaues und umfassendes Bild machen kann.
Hier finden Sie die deutschlandweite Pflegestützpunkte:
Pflegestützpunkte in Berlin, Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Schleswig-Holstein
Weitere Informationen zu diesem Thema unter:
Pflegehelden.de
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Fachredaktion: Michael Kaindl
Redaktion: Patricia Hansen
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Lina meint
Ein Badewannenlift kann das Leben sehr vereinfachen. Ich wüsste nicht mehr wie wir ohne ihn klar kommen würde. In manchen fällen kann man auch Zuschüsse bekommen.
Mario Schwarz meint
Interessant, dass rund ein Drittel der Berufstätigen aufgrund der Pflege eines Angehörigen ihre Arbeitszeit reduzieren mussten. Bei mir ist es ebenfalls der Fall, dass ich nicht ausreichend Zeit habe, meine Eltern zu Hause zu pflegen. Ich hoffe, dass ich nächste Woche eine häusliche Pflege von Zuhause aus finde.